PRESSE – Güterzug entgleist

Augsburger Abendzeitung vom 4. September 1890

W. München, 3. Sept. Heute früh durcheilte die Kunde unsere Stadt, im Südbahnhof sei ein Güterzug entgleist, und es seien hiebei drei Menschenleben zu Grunde gegangen und mehrere Thiere getödtet worden. Glücklicherweise bestätigte sich diese Nachricht nicht in ihrem vollen Umfange, doch war der Fall immerhin ein ernster, denn es wurden 3 Personen verletzt und dem Eisenbahnfiskus erwuchs großer Schaden, der sich auf 40-50,000 M. berechnen dürfte. Der Hergang ist Folgender: Heute Früh 6 Uhr 23 Min. näherte sich dem Südbahnhof eben der nun um diese Zeit fällige, von Augsburg nach Simbach verkehrende, aus zirka 30 Wagen bestehende Güterzug Nr. 775 der Ueberfahrtsbrücke über die Lindwurmstraße, als plötzlich die Maschine nach links entgleiste und sich der Tender quer über die Schienen des Einfahrtsgeleises zum Südbahnhofe stellte. Durch dieses Hindernis aufgehalten, drängte der Zug nach und ein donnerähnliches Krachen durchtönte die Luft. Der linke hintere Puffer des Tenders bohrte sich in die Stirnwand des nachfolgenden Dienstwagens, in welchem sich Oberkondukteur Lud. Mayer befand, während die Rückwand durch den nachfolgenden Personenwagen 3. Klasse eingedrückt wurde, welcher auch das Dach des Dienstwagens abhob. Oberkondukteur Mayer erlitt eine Quetschung des linken Daumens und konnte aus dem durch die nachdrängenden Wagen zu einem Trümmerhaufen verwandelten Wagen ohne Gefahr hervorgezogen werden. In dem erwähnten Personenwagen 3. Klasse befanden sich der Metzger Anton Mayershofer und der Metzgersohn Ganzenrieder, beide von Donauwörth, sonst glücklicherweise Niemand. Dieselben hatten den im Zuge befindlichen Viehtransport zu begleiten. Der Pesonenwagen wurde, nachdem der nachfolgende geschlossene Güterwagen dessen hintere Wand eingedrückt hatte, zur Seite aus dem Geleise hinausgeschleudert. Hiebei erlitt Mayershofer einige nicht sehr erhebliche Verletzungen am Schenkel und konnte bereits Nachmittags wieder in seine Heimat zurückkehren. Dagegen war Ganzenrieder etwas schlimmer daran. Derselbe war zur Seite geschleudert worden und erlitt eine heftige Gehirnerschütterung, welche ihn, nachem er herausgezogen worden war, und seine Personalien angegeben hatte, momentan bewußtlos machte. Außerdem hatte er eine nicht unbedeutende Quetschung des linken Beines davongetragen. Auf seinen Wunsch wurde er durch Sesselträger zu Bekannten in der Thalkirchnerstraße in Privatpflege verbracht.
Am ärgsten wurde nun der nach dem Personenwagen folgende Güterwagen der ungarischen Staatsbahngesellschaft zugerichtet. Derselbe fuhr auf den Dienstwagen auf und wurde durch den ihm folgenden Bierwagen der Firma J. Sedlmayer „zum Franziskaner“, der sich in die Höhe schob und auf den ungarischen Wagen hinauffuhr, total zertrümmert, so daß nur mehr das eiserne Untergestell zu erkennen war. Der Bierwagen selbst, dessen vordere Räder in die Luft ragten und dessen hintere Räder aus den Schienen gehoben wurden, erlitt nur wenige und unbedeutende Beschädigungen. Dem hinter dem Bierwagen folgenden offenen Güterwagen der bayer. Staatsbahn wurde die Stirnwand eingedrückt und die Puffe theils verbogen, theils abgedrückt. Der letzte beschädigte Wagen war ein holländischer Wagen, dem der Bremssitz etwas verbogen wurde. Die übrigen Wägen blieben unversehrt. Nachdem die Verletzten geborgen waren, wurde die 6. Kompagnie (Sendling) der freiwilligen Feuerwehr requirirt. Die Obmänner Beck und Demmler der freiwilligen Sanitätskolonne eilten herbei und Arbeiter trafen alsbald ein, um die Bahn, die für den Verkehr nahezu unbrauchbar war, wieder herzustellen. Dies war indessen kein leichts Stück Arbeit, da derselbe jeden Moment umzustürzen drohte. Am schwierigsten war es, die nur wenig beschädigte Lokomotive flott zu machen und dauerte dies bis 12 Uhr Mittags. Die Entgleisung war etwa 20 bis 25 Meter nach Passiren des Doppelwechsels 8,9 erfolgt. Wäre sie etwas später auf der Brücke erfolgt, hätte unabsehbares Unglück entstehen können. Ueber die Ursachen der Entgleisung gehen die Ansichten auseinander. Während die Einen meinen, der Ablöse=Wechselwärter Reiter, der den Wechsel zu bedienen hatte, habe den um 6 1/4 Uhr noch richtig stehenden Wechsel eingeölt, dann probirt und hierbei vergessen, den Wechsel wieder nach der Zuchsrichtung richtig zu stellen, sind Andere der Ansicht, Reiter habe den Wechsel zu spät gestellt. Andere äußern sich dahin, die Maschine habe den Wechsel geschnitten und Reiter denselben noch herumzureißen versucht, es sei ihm aber nicht mehr gelungen. Reiter, der erst seit früh 4 Uhr im Dienste war, ist Familienvater und wird als ein sehr braver, gewissenhafter und pflichtgetreuer Bediensteter geschildet. Er wurde natürlich sofort vom Dienste suspendirt. Eine große Menge Menschen belagerte den ganzen Tag die Unglücksstätte und besprach das Ereignis.

Quelle: Walter Langenmeier (mit freundlicher Genehmigung)

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