PRESSE – Die Eröffnung der Orientbahn

Augsburger Abendzeitung vom Samstag, 14. April 1888

Die Eröffnung der Orientbahn.
* Nach amtlichen Berichten aus Konstantinopel soll die Orientbahn im Mai d. Js. für den direkten Verkehr von Personenzüge Wien = Belgrad = Sofia = Philippopel = Konstantinopel eröffnet werden. Die Strecke Phillippopel = Nisch wird bei Tage befahren, weil dort die schwierigste Strecke mit verschiedenen Steigungen und Gefällen, Brücken und Viadukten zu überwinden ist. Täglich wird ein direkter Eilzug verkehren und zweimal in der Woche der Orient=Expreßzug.
Die Fahrdauer Wien = Konstantinopel wird 41 Stunden betragen. Der Ausbau der Orient=Eisenbahn und der damit verbundene Anschluß derselben an das europäische Schienennetz ist nicht allein für Oesterreich=Ungarn, sondern auch für Deutschland und das übirge West=Europa vom größten Interesse. Zum Verständnis dieser wichtigen, schon seit längerer Zeit auf der Tagesordnung Europas stehenden Angelegenheit ist es nothwendig, daß wir zunächst einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der Orient=Eisenbahnen werfen. – Das Haupthindernis einer gedeihlichen Eintwicklung der Orientbahnen und deren weiteren Ausbaues lag lag von jeher in den schwierigen Finanzverhältnissen. Im Jahre 1860 wurde die erste Eisenbahn in der Türkei zwischen Czernawoda und Küstendsche von einer englischen Gesellschaft erbaut; im Jahre 1862 wurde die Strecke Rustschuck = Varna in Angriff genommen, dagegen gelang es erst im Jahre 1873 einem Pariser Bankier, dem Baron Hirsch, den Betrieb der Bahn zu erlangen. Was die anderen Bahnen der Balkan=Halbinsel betrifft, so erlangte Baron Hirsch, auf die in Rumelien, Thracien und Macedonien zu erbauenden Bahnen am 19. April 1869 die erste Konzession unter Bedingungen, welche für die Türkei noch drückender waren, als die frühere an die englische Gesellschaft verliehene Konzession. Das Eigenthum dieser Bahnen, welche im Laufe des Jahres 1873 fertig gestellt waren, erwarb unter den denkbar ungüsntigsten Kaufbedinungungen der Staat. Was nun die Beziehungen der Türkei in der Eisenbahnanschlußfrage zum Auslande anlangt, so wurden die ersten Schritte zu Regelung derselben auf Andrängen Oesterreich=Ungarns im Jahre 1875 gethan. Die Pforte verpflichtete sich zu dieser Zeit Oesterreich=Ungarn gegenüber zum Ausbau der Linie Nisch = Sofia = Sarembey binnen drei Jahren und machte sich grundsätzlich verbindlich, eine von Nisch ausgehende Linie an die Bahn Salonichi = Mitrovica anzuschließen.
Dies war der Stand der Angelegenheit, als der russisch=türkische Krieg ausbrach. Nach Beendigung des Krieges nahm Oesterreich=Ungarn die vorübergehend fallengelassene Angelegenheit mit verdoppeltem Eifer wieder auf, und das deutsche Reich lieh ihm hierbei die thatkräftigste Unterstützung. Den vereinigten Anstrengungen dieser Mächte gelang es, die Wichtigkeit der Angelgenheit Europa gegenüber darzuthun, und so brach sich denn auf dem Berliner Kongresse allgemein die Ansicht Bahn, daß die Herstellung zweckentsprechender Eisenbahnanschlüsse an das vorhandene türkische Bahnnetz, mit anderen Worten: „der Ausbau der Orientbahnen“ ein Lebensinteresse für den überwiegend größten Theil von Europa bilde. Aber erst im Jahre 1883 kam zu Wien eine Konvention zu Stande, in welcher sich Oesterreich=Ungarn, die Türkei, Serbien und Bulgarien zur Herstellung folgender Eisenbahnstrecken bis zum 15. Oktober 1886 verpflichteten: Oesterreich=Ungarn stelle eine Eisenbahnlinie von Budapest über Semlin bis an die ungarisch=serbische Grenze bei Belgrad her.
Serbien erbaut eine Linie von Belgrad über Nisch und Pirot nach der serbisch=bulgarischen Grenze, mit Anschluß in Belgrad an die genannte ungarische Linie, und bei Pirot an die von Bulgarien zu erbauende Linie von der serbisch=bulgarischen Grenze über Caribrod und Sofia nach der bulgarisch=türkischen Grenze an. Wenn nun auch bei der bekannten, in den orientalischen Staaten herrschenden Gemächlichkeit afu ein pünktliches Einhalten der ziemlich kurz bemessenen Herstellungsfrist für die neuen Bahnen kaum gerechnet werden konnte, so gelangte man doch schon am 5. Juni desselben Jahres dahin, die sogenannten Orient=Expreßzüge auf der Eisenbahnlinie zwischen Paris und Giurgewo über Strraßburg, Karlsruhe, Stuttgart, München, Simbach, Wien, Budapest, Bukarest, Verciorova wöchentlich zweimal verkehren lassen zu können. Diese Züge waren zunächst bestimmt, im Zusammenhange mit den anschließenden Schnellzügen der bulgarischen Eisenbahnlinie Rustschuk = Varna und den zwischen Varan und Konstantinopel verkehrenden Postdampfschiffen des Oestereich=Ungarischen Llyod eine beschleunigte Reise= und Postverbindung zwischen dem westlichen und mittleren Europa einerseits und Konstantinopel andererseits herzustellen.
Die Zeitersparnis berechnete sich für Paris = Konstantinopel auf 1 Tag 4 1/2 Stunden, für Wien = Konstantinopel auf 14 Stunden; denn zu der Fahrt von Paris nach Konstantinopel waren nach den seitherigen Zugverbindungen 4 Tage 16 Stunden erforderlich. – Durch die Kriegs=Ereignisse im Herbste und Winter 1885 wurden die Arbeiten naturgemäß wieder bedeutend beeinträchtigt. In den beiden letzten Jahren wurden dagegen die Arbeiten derart gefördert, daß nunmehr die Eröffnung der sämmtlichen, seither noch im Bau begriffenen Strecken bis 1. oder 15. Mai erfolgen kann.
Der reiche bulgarische Bankier von Bukarest, Eulogius Georgiew, hat das Verdienst, mit ein paar Millionen Franken das Werk wesentlich gefördert zu haben. Die bulgarische Regierung hat binnen Monatsfrist noch die Waggons, welche die Görlitzer Waggonfabrik geliefert hat, zu bezahlen. Die Lokomotiven sind von der Fabrik der Oestereich=Ungarischen Staatseisenbahn=Gesellschaft. Im Ganzen stehen deren 12 in Zaribrod mit 107 Waggons. Alles ist nach den Aussagen der kompetenten ausländischen Fachleute im besten Zustande, so daß sich die Linie für den internationalen Verkehr vollkommen eignet. Hiemit wäre dann die im Interesse des Handelsverkehrs der Kulturnationen des westlichen und mittleren Europas schon seit langen Jahren sehnlichst erwünsche Eisenbahnverbindung nach Konstantinopel, welche die an noch ungehobenen Schätzen so reichen Länder des Orients erschließen soll, endlich zur Vollendung gelangt.

Quelle: Walter Langenmeier (mit freundlicher Genehmigung)

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